Donnerstag, 7. Juli 2011

Merkels Ausblick auf die Zukunft?

Rede der Vorsitzenden der CDU Deutschlands,
Dr. Angela Merkel, MdB,
anlässlich der Festveranstaltung „60 Jahre CDU“
am 16. Juni 2005, Berlin
Es gilt das gesprochene Wort.
Sperrfrist: Beginn der Rede
Wir haben soeben Vieles gehört über die große Geschichte der CDU. Lieber Helmut Kohl, ich danke Ihnen für den eindrucksvollen Blick auf das Erbe unserer Partei. Wir alle haben gespürt: Hier spricht jemand, der ein wesentliches Stück der Geschichte unserer Partei und unseres Landes verkörpert. Hier spricht jemand, der mehr als jeder andere unsere Partei mit geprägt hat. Lieber Helmut Kohl, ich danke Ihnen dafür. Wir sind froh, dass Sie zu uns gehö-ren.
Liebe Freunde, Sie alle werden sicher mit mir sagen: 60 Jahre CDU - ja, das waren wichtige Jahre für unser Land. Das waren Jahre großer politischer Erfolge, Jahre begeisternder Ideen und großartiger Persönlichkeiten. An den Anfang jedoch möchte ich nicht Leistungen, nicht Programme und nicht Personen stellen. An den Anfang möchte ich etwas Anderes stellen: eine Haltung. Eine Haltung, die kennzeichnend ist für den politischen Charakter der Christ-demokraten.
Wir sind nicht einer Ideologie verpflichtet. Wir sind nicht der politische Arm einer Klasse, ei-ner Gruppe oder eines Einzel-Interesses. Christlich-demokratische Politik hat sich nie als „Abrücken von“ bestimmt, sondern stets als „Einstehen für“: für das eigene Land, für die eu-ropäische Einigung, für die transatlantische Partnerschaft, für die Soziale Marktwirtschaft, für Freiheit und Verantwortung.
Lassen Sie es mich auf den Punkt bringen: Unsere Motivation heißt Deutschland. Unsere Verpflichtung gilt dem Wohlergehen der Menschen. Diese Verpflichtung ist das Herzstück unseres politischen Auftrages. Das macht den Dienst für unser Land aus.
Es ist ein Dienst an der Freiheit, an der Herrschaft des Rechts, an der Einheit unserer Nati-on, am Frieden in Europa und der Welt. „Einigkeit und Recht und Freiheit [...] sind des Glü-ckes Unterpfand“, heißt es im Deutschlandlied. Dieser Gedanke ist unsere Antriebsfeder. Er ist Richtschnur unseres Handelns.
Mehr noch als all die Leistungen, die Programme, die Personen der CDU ist es diese Hal-tung, die fast 600.000 Mitglieder eint. Diese Haltung macht die Kraft der Union aus. Getragen wird die Union dabei von dem Engagement der vielen Tausend ehrenamtlichen Freunde. Sie und niemand anders, liebe Freunde, gehören deshalb in den Mittelpunkt unserer Feierstun-de. An Sie richte ich meinen Dank! Vor Ort, da wo Sie täglich Ihren Kopf für das hinhalten, was wir beschließen und vereinbaren, da schlägt das Herz unserer CDU. Ich danke Ihnen für alles, was Sie der CDU Gutes tun.
60 Jahre CDU - das sind 60 Jahre Zukunft. Das ist nicht einfach ein Blick zurück, das ist nicht nur das Schwelgen in Erinnerungen, das ist nicht nur die Besinnung auf Vergangenes. Das ist Vergangenheit, die uns eine Pflicht für Gegenwart und Zukunft auferlegt.
Die CDU war und ist immer die Partei des Neubeginns in Deutschland. Die CDU war und ist nie eine Partei, die Angst hat. Wir haben keine Angst vor wegweisenden Entscheidungen. Vor bahnbrechenden Entwicklungen.
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Ich denke, jeder spürt es: Auch heute erleben wir wieder bahnbrechende Entwicklungen. Auch heute steht unser Land wieder an einer entscheidenden Weggabelung. Lassen Sie uns heute aber nicht zuerst mit den Schwierigkeiten unseres Landes beginnen. Lassen Sie uns anders beginnen. Mit dem Klang dieses Landes. Mit den Verheißungen, die dieser Klang bei jedem von uns auslöst:
• Denn Deutschland - das verheißt Chancen für jeden. Die Chance, etwas zu erreichen für sich und für seine Familie. Die Möglichkeit, teilhaben zu können an einem erfolgreichen Gemeinwesen. Aus den Ruinen des 2. Weltkrieges entstand das Wirtschaftswunder, die Wachstumslokomotive in Europa. Und immer noch steht „Made in Germany“ weltweit für die Chancen einer leistungsfähigen Gesellschaft.
• Deutschland - das verheißt neue Ideen. Die Möglichkeit, Neues zu wagen, Probleme zu lösen, Herausforderungen zu bestehen, dem Fortschritt Raum zu geben, seien es wis-senschaftlich-technische Erkenntnisse, seien es politische Ideen. Das Grundgesetz, die Soziale Marktwirtschaft, die duale Berufsausbildung oder die deutsche Universitätsidee - das sind auch Inspirationen für andere Länder gewesen.
• Deutschland - das verheißt Zusammenhalt. Ein Land, in dem jeder für sich und andere gibt, was er kann, und keiner fallengelassen wird, weil er nicht mehr kann. Das ist soziale Partnerschaft, sozialer Ausgleich.
Chancen, Ideen, Zusammenhalt - das ist der Klang unseres Landes. Dass die Wirklichkeit in Deutschland heute weit dahinter zurück bleibt, das wissen wir. Dass der Klang unseres Lan-des dennoch ein anderer als unsere Wirklichkeit heute ist, auch das wissen wir.
Deutschland muss nicht neu erfunden werden. Wahrlich nicht. Aber wir wissen: Die Aufgabe, vor der wir heute stehen, ist groß:
• Innenpolitisch brauchen wir eine veränderte gesellschaftspolitische Architektur, um die materiellen, die sozialen und die moralischen Werte unseres Landes zukunftsfä-hig zu machen. Ein „Weiter so“ geht nicht mehr.
• Europapolitisch brauchen wir eine neue Verständigung über Ziele und Grenzen. Das Verständnis von Europa als Teil der Außenpolitik ist veraltet. Wir müssen Europa als Gegenstand der Innenpolitik begreifen und praktizieren. Um die Bürger nicht für Eu-ropa zu verlieren, gilt auch hier: Ein „Weiter so“ geht nicht mehr.
Beides - die Veränderungen im Inneren wie auch die Veränderungen nach außen - führen uns zum Kernproblem unseres Landes: Es ist das Vertrauen in Politik und politisches Han-deln, das nachhaltig gestört ist.
Man traut sich ja schon gar nicht mehr, darüber zu sprechen, inwieweit Politiker Vorbild sein könnten, ja sogar sein müssten. Vielleicht führt das auch zu weit, aber ich finde, wir müssen uns wenigstens wieder Gedanken darüber machen, wie Politiker neues Vertrauen gewinnen können, wie sie gewonnenes Vertrauen nicht sofort wieder enttäuschen, wie sie gewonnenes Vertrauen also auch wieder rechtfertigen können.
Vertrauen gewinnen - das und nichts anderes ist die entscheidende Voraussetzung für die Gesundung unseres Landes und die Gesundung Europas. Das und nichts anderes wird auch im Mittelpunkt des Bundestagswahlkampfes stehen.
Vertrauen gewinnen - die Geschichte unseres Landes und die Geschichte der CDU zeigen uns, worauf es dabei ankommt:
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• Es kommt an auf eine Politik, die keine Angst hat, sondern Mut. Mut zur Auseinan-dersetzung, um eigene Überzeugungen auch gegen Widerstände zu behaupten und durchzusetzen. Es bedurfte im Übrigen trotz aller Angepasstheit auch dieses Mutes, sich in der frühe-ren DDR zur Ost-CDU zu bekennen. Wer das getan hat, der hat auf Karrierechancen verzichtet, der hat Nachteile in Kauf genommen. Das sollten wir nie vergessen.
• Es kommt an auf eine Politik, die nicht auf Feindbilder setzt, sondern die die Kraft zum Konsens hat. Konsens, der nach Kontroversen neue Gemeinsamkeit stiften kann.
• Es kommt an auf eine Politik, die sich nicht in Beliebigkeit verliert, heute so und mor-gen so, sondern die das Bekenntnis zu einem Kompass wagt. Ein Kompass, der die Wertegebundenheit unserer Politik verbürgt.
Auch in der Politik gilt: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Anders gesagt: Wer wagt, der ge-winnt. Wer sich selber etwas zutraut, der gewinnt das Vertrauen der Menschen.
Die Geschichte der CDU steht dafür:
• Konrad Adenauer hat gegen tiefe Zweifel und erbitterte Widerstände die Einbindung der Bundesrepublik Deutschland in die Wertegemeinschaft des Westens durchgesetzt. Heute können wir sagen: Die Verantwortung Deutschlands für die europäische Einigung, für die transatlantische Partnerschaft, für die Existenz Israels - all das gehört zum Kern der Staatsräson unseres Landes und zur Räson unserer Partei.
• Ebenfalls bei zum Teil großem Widerstand hat Ludwig Erhard die Soziale Marktwirtschaft entwickelt. Als Konrad Adenauer in seiner ersten Regierungserklärung 1949 auf das „Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft“ zu sprechen kam, vermerkte das stenographische Protokoll des Deutschen Bundestages - ich zitiere: „Lachen links“. Heute können wir sa-gen: Auch links lacht niemand mehr darüber.
• Und wieder gegen erbitterten Widerstand hat Helmut Kohl am Nato-Doppelbeschluss und an der Nachrüstung festgehalten. Heute wissen wir: Die Wiedervereinigung unseres Landes wäre ohne diese Konsequenz im Denken und Handeln nicht denkbar gewesen.
Politik ohne Angst. Politik mit Mut - das ist heute erneut gefragt.
Denn wir haben wahrlich keinen Rechtsanspruch auf Demokratie und soziale Marktwirtschaft auf alle Ewigkeit.
Unsere Werte müssen sich auch im Zeitalter von Globalisierung und Wissensgesellschaft behaup-ten. Und wenn sie sich behaupten sollen, dann müssen wir bereit sein, die Weichen richtig zu stellen. Auch da sind wieder Widerstände zu überwinden. Es sind wieder Prioritäten zu setzen. Ist dem Wichtigen der Vorrang vor dem weniger Wichtigen zu geben.
Viele in der Politik argumentieren ja oft und gerne mit Sachzwängen, die sie daran hinderten, dieses oder jenes genau jetzt zu tun. Ich will nicht näher bewerten, wie viel davon wahr ist oder wie viel Ausrede, aber ich sage klar: Für uns gibt es nur einen einzigen Sachzwang, dem wir unterliegen, und der heißt, Menschen in Arbeit zu bringen. Diesem Sachzwang hat sich alles unterzuordnen. Das ist die Priorität für CDU und CSU.
Dazu, ich habe es bereits mehrfach gesagt, müssen wir uns auf einen Grundgedanken der Sozialen Marktwirtschaft besinnen. Arbeit braucht Wachstum, und Wachstum braucht Frei-
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heit. Unser Staat ist überfordert. Wir müssen ihn wieder befähigen, seinen Aufgaben für die Menschen nachkommen zu können.
Wissen Sie eigentlich, meine Damen und Herren, nach welchen Kriterien in Deutschland zum Beispiel Plätze auf einem Jahrmarkt vergeben werden? Nicht einfach danach, wer viel-leicht das interessanteste Angebot macht. Es geht vielmehr nach der Kategorie „Bekannt und bewährt“. Gut, bekannt und bewährt, das ist in Ordnung.
Aber nur so lange, wie es Neues und Wagemutiges nicht von vornherein ausschließt oder behindert.
Oder spricht es nicht eigentlich für den Realitätssinn der Deutschen, dass sie konsumunlus-tig sind und sparen? Sie tun das, weil sie spüren, dass die staatlichen Sozialsysteme nicht mehr stark genug sind und sie sich deshalb selbst für schlechte Zeiten wappnen sollten.
Zwei Beispiele, die zeigen, dass wir umsteuern müssen, dass wir entscheidende Weichen-stellungen vornehmen müssen:
• für Sozialreformen, die Leistungsanreize setzen und soziale Sicherheit wieder zu-kunftsfähig machen;
• für einen flexiblen Arbeitsmarkt, der Teilhabe sichert und Ausgrenzung verhindert;
• für ein kinderfreundliches Land, das die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleich-tert;
• für Bildung und Innovation, die unser Land wieder nach vorne bringen;
• für eine Befreiung von Bürokratie, die die vorhandenen Energien der Menschen frei setzt und entwickelt;
• für eine deutliche Vereinfachung des Steuerrechts, die fairen Wettbewerb fördert und staatliches Handeln wieder nachvollziehbar macht.
• all das bei überschuldeten Kassen, in die wieder Solidität einkehren muss.
Ich weiß, heute werden unsere Reformkonzepte von nicht wenigen als zu weitreichend emp-funden und kontrovers diskutiert. Aber ich bin überzeugt: Morgen werden sie die Grundlage für ein neues gemeinsames Verständnis sein.
Bei aller Kraft zur Auseinandersetzung - wir haben immer eine Politik der ausgestreckten Hand der Partnerschaft verfolgt, nie eine Politik der geballten Faust des Klassenkampfes. Dafür steht schon allein der Begriff der „Union“. Unsere Gründer haben damit das Besondere der neuen Partei gekennzeichnet. Die CDU passte nicht in das gewohnte Schema. Sie war weder rechts noch links.
Union - das meinte vor allem den epochalen Brückenschlag zwischen evangelischen und katholischen Christen. Für die gemeinsame Verantwortung für Staat und Gesellschaft. Ge-meinsamkeit in den Grundwerten, Gemeinsamkeit von Menschen verschiedener gesell-schaftlicher Schichten und landsmannschaftlicher Herkunft, Gemeinsamkeit der Generatio-nen. Politische Heimat für konservative, liberale und christlich-soziale Strömungen.
Meine Damen und Herren, wir brauchen die gemeinschaftsstiftende Wirkung der Unionsidee nicht nur in unserer Partei, wir brauchen sie auch für unser Land als Ganzes. Mehr denn je.
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Weil wir uns nicht mit zunehmenden Spaltungstendenzen in unserer Gesellschaft abfinden dürfen. Verdrängung hilft nicht. Auch Illusionen helfen nicht. Die Wirklichkeit ist nicht politisch korrekt.
Denn es gibt sie, die neuen Spaltungen unserer Gesellschaft - zwischen Ost und West, Menschen mit und Menschen ohne Arbeit, Alten und Jungen. Es gibt sie, die Parallelgesell-schaften, und zwar nicht nur die zwischen unterschiedlichen Kulturen in unserem Land. Es gibt noch andere.
Eine Million Kinder in Deutschland leben heute von der Sozialhilfe. Ihr Lebensunterhalt ist gesichert. Aber ihre Lebenschancen drohen zu verderben. Viele dieser Kinder sind völlig sich selbst überlassen. Oft interessiert sich niemand dafür, ob und was sie lesen, was und wie viel sie fernsehen, wie sie lernen und ihre Freizeit verbringen. Diese Kinder steigen nicht aus freier Entscheidung aus, sie werden zurückgelassen.
Ich nenne das fürsorgliche Vernachlässigung. Wir können das nicht hinnehmen.
Ein Patentrezept zur Lösung dieses Problems gibt es wahrlich nicht. Aber es gibt ein Prinzip, das wir anwenden müssen, und das ist das Prinzip Verantwortung. Diese Verantwortung geht uns alle an. Sie ist eine gemeinsame Aufgabe der Politik, der Wirtschaft, der Schulen, der Vereine, der Familie, der Nachbarn, der Freunde. Das bedeutet:
• Keine Gleichgültigkeit, wenn Kinder von vornherein auf der Schattenseite der Gesell-schaft leben.
• Keine Gleichgültigkeit, wenn junge Menschen keinen Einstieg ins Arbeitsleben finden.
• Keine Gleichgültigkeit, wenn ältere Arbeitnehmer als nicht mehr leistungsfähig erklärt werden. Niemand ist im Übrigen zu alt, um mit uns jung zu sein, ins 21. Jahrhundert zu gehen.
• Keine Gleichgültigkeit, wenn ganze Regionen um ihre wirtschaftliche Lebensfähigkeit kämpfen müssen.
Liebe Freunde, eine lieblose, eine gleichgültige Gesellschaft - mit einer solchen Tendenz wird sich die CDU Deutschlands niemals abfinden.
Wir Christdemokraten wollen die Spaltungen in unserer Gesellschaft heilen. Wir werden sie aber nur heilen können, wenn die Bürger unser Land als Schicksalsgemeinschaft - als eine Nation - begreifen. Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft. Wir brauchen ein erneuertes Be-wusstsein dafür, dass wir nur gemeinsam vorankommen. Das ist nicht einfach nur dahinge-sagt.
Schauen Sie auf die wieder aufgebaute Frauenkirche in Dresden: Das ist nicht ostdeutsches Kulturerbe. Das ist auch nicht Ausdruck westdeutschen Spendergroßmuts. Nein, die Frauen-kirche in Dresden - das ist Deutschland. Das ist unsere gemeinsame Kultur, die 15 Jahre nach dem Fall der Mauer wieder in altem Glanz, in neuem Glanz erblüht.
Ja, es ist wahr, Deutschland braucht eine große Koalition, und zwar eine große Koalition aller Bürger, die mit uns gemeinsam das Land voranbringen wollen. Wenn CDU und CSU und die Bürger fest zusammenhalten, dann können wir es schaffen.
Wenn ich das sage, dann weiß ich gleichzeitig, dass für viele, die uns bislang nicht gewählt haben, der Abschied von Rot-Grün bitter ist. Ich wische das nicht beiseite. Alles hat seine
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Zeit. Es geht auch nicht darum, so zu tun, als wüssten wir alles immer besser als die ande-ren. Manches an gesellschaftlicher Veränderung, was 1968 und danach die alte Bundes-republik und auch die CDU bewegte, ist heute Allgemeingut.
Wir können und wir wollen nicht zurück zum Familien- und Frauenbild der 50er Jahre. Wir können und wir wollen nicht zurück zum gesellschaftspolitischen Rahmen jener Zeit. Wir alle sind gemeinsam weiter als damals.
Aber alle erkennen jetzt auch: Die geistigen Ressourcen von 1968 waren zu eng für die Zu-kunft unseres Landes. Die Utopien dieser Generation müssen der Realität Platz machen, wenn das Land eine gute Zukunft haben soll. Nun übernimmt die nächste Generation. Es ist Zeit für eine realistische Politik.
Realistische Politik - das klingt langweilig, das klingt nur noch nach Pragmatismus. Das aber wäre ein Missverständnis. Sie alle kennen den Satz von Konrad Adenauer: „Die Politik ist die Kunst des Möglichen. Das heißt: Sie muss mit einem gesunden Realismus ihre Handlungen den Gegebenheiten anpassen.“ - Ende des Zitats. Kunst hat sprachlich übrigens etwas mit Kenntnis und Können zu tun. Nachbessern dagegen kommt im Wortstamm nicht vor.
Realistische Politik so verstanden - das ist Mut zur Wahrheit statt Glaube an Illusionen. Wie gesagt, die Wirklichkeit ist nicht politisch korrekt.
Viele Politikprofis und Kommunikationsexperten sagen mir in diesen Tagen, es sei unmög-lich, mit der Wahrheit über die Lage unseres Landes und über die Art der Reformmaßnah-men eine Wahl zu gewinnen. Ich glaube, das Gegenteil ist der Fall. Weil wir unsere Genera-tion von ihren Ängsten befreien müssen, indem wir ihre Ängste aussprechen. Ängste über ihre Sicherheit im Alter, ihre Gesundheitsversorgung, ihre berufliche Perspektive. Und indem wir die Dinge beim Namen nennen, machen wir die Ursachen der Probleme erkennbar. In-dem wir wiederum die Ursachen erkennbar machen, machen wir sie gestaltbar. Das ist Poli-tik mit Gestaltungsanspruch.
Daraus ergibt sich alles Weitere. Denn so können uns Besitzstände nicht immer wieder Angst einjagen. Wenn wir die Kraft haben, die Wahrheit der Illusion entgegen zu setzen, wenn wir die Kraft für eine realistische Politik haben, dann wird die Macht alter Besitzstände vor den neuen Wirklichkeiten unserer Generation keinen Bestand mehr haben.
Ich bin fest entschlossen, diesen Weg zu wagen. Ich bin fest entschlossen, dass wir uns ge-meinsam auf diesen Weg machen - von einer Gesellschaft, die gefangen ist in dem Versuch der gleichmäßigen Verteilung von „Weniger“, hin zu einer Gesellschaft, die ihre Kräfte auf das Erwirtschaften von „Mehr“ konzentriert.
Wenn in diesen Tagen viele unserer Freunde viele Einzelpunkte und Maßnahmen zu Rente, Pflege, Gesundheit, Steuer, zum Subventionsabbau usw. diskutieren, ankündigen, Manches auch wieder verwerfen, dann ist das ohne Zweifel Teil unseres Ansatzes. Keine Frage, Vie-les davon kann ich ohne Mühe unterschreiben, Manches fehlt noch, Anderes muss überar-beitet werden. Aber ich sagte, all diese Punkte sind Teil unseres Ansatzes. Sie haben ein Manko: Sie sind Punkte. Mir scheint, von uns wird mehr verlangt. Gleichsam eine Quadratur des Kreises, ein grundsätzlicher Wandel politischen Handelns.
Dabei geht es um eines: weg vom Stückwerk. Hin zu einer Politik aus einem Guss. Wer A sagt, muss auch B sagen. Aussagen zum Beispiel zu Steuersenkungen oder möglichen Steuererhöhungen müssen im Kontext mit Aussagen zur Senkung der Lohnnebenkosten stehen. Alles hängt mit allem zusammen. Vom Stückwerk zur Politik aus einem Guss - das ist die entscheidende Arbeit, die meine Partei mit Blick auf das Regierungsprogramm leisten wird. Nicht mehr und nicht weniger.
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Realistische Politik, wir haben es gesehen, ist nicht nur Pragmatismus. Sie verbindet Prag-matismus mit Werteorientierung. Deshalb ist sie undenkbar ohne einen Kompass. Die Union hat diesen Kompass. Er markiert das Gesetz unseres Anfangs. Er besagt: Nicht der Staat ist das Maß der Politik, nicht eine Partei und auch nicht eine Klasse. Nein, Konrad Adenauer hat es 1946 so formuliert - ich zitiere: „Der Fundamentalsatz des Programms der CDU, der Satz, von dem alle Forderungen unseres Programms ausgehen, ist ein Kerngedanke der christli-chen Ethik: Die menschliche Person hat eine einzigartige Würde, und der Wert jedes einzel-nen Menschen ist unersetzlich.“ - Ende des Zitats.
Liebe Freunde, es ist dieses christliche Menschenbild, das unser Kompass ist. Es ist das einigende Band aller in der CDU. Politik in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Das begrenzt und befreit zugleich. Grenzen setzt es in den Debatten über Beginn und Ende des menschlichen Lebens. Befreien kann es ebenso sehr.
Es befreit vom Glauben an eine Allmacht oder eine Allzuständigkeit der Politik. Vom Glauben an die Überlegenheit kollektiver Lösungen, und es befreit zum Glauben an die Kraft des Menschen.
Dabei wissen wir: Der Mensch lebt nicht für sich allein. Genau deshalb machen wir die Basis unserer Gesellschaft stark. Wir setzen auf den Einzelnen, auf seine Familie, seine Gemein-de, seinen Verein, seinen Betrieb.
Nähe und Teilnahme - das ist Solidarität und Subsidiarität. Wer, wenn nicht die Betriebsräte und Firmenleitungen vor Ort, kann denn den besten gemeinsamen Weg in Krisen finden? Wo, wenn nicht in den Kommunen, kann Langzeitarbeitslosen wieder der Einstieg eröffnet werden? Solidarität und Subsidiarität, das ist keine graue Theorie. CDU: die Macht dem Menschen, könnte es heißen.
Aus dem christlichen Menschenbild speist sich auch unser Bekenntnis zur Nachhaltigkeit. Die Zukunft darf nicht zur Müllhalde für die ungelösten Probleme der Gegenwart werden. Nicht beim Schutz unserer Natur, denn eine natürliche Ressource darf nur in dem Maße ge-nutzt werden, in dem sie sich wieder regenerieren kann. Und auch nicht beim schier unauf-haltsamen Gang in die Verschuldung. Denn der Staat muss lernen, nur das ausgeben zu können, was er eingenommen hat.
Vertrauen gewinnen durch realistische Politik: Dass die CDU das kann, das haben wir in der Geschichte unseres Landes oft bewiesen. Wir haben mehrfach Wendepunkte erlebt, an de-nen der Gestaltungswille der Union zu einer Kraftquelle geworden ist: Römische Verträge, Ausgestaltung des Sozialstaates, deutsche Einheit, Einführung des Euro - das sind nur we-nige Stichworte.
Dass wir es auch heute können, das zeigt schon der Blick auf die Ergebnisse der unionsge-führten Bundesländer. Dort, wo wir regieren, geht es den Menschen besser. Dort wo wir lan-ge regieren, geht es ihnen erst recht besser - ob es um Arbeitsmarkt, Wirtschaftskraft, Bil-dung, Forschung, innere Sicherheit geht. Das schafft Vertrauen.
60 Jahre CDU - das waren also 60 gute Jahre für Deutschland, wo immer wir politische Ver-antwortung getragen haben: im Bund, in den Ländern und in den Gemeinden. Wir respektie-ren den großen Beitrag, den die anderen demokratischen Parteien zum Gelingen unseres Landes geleistet haben. Zurzeit habe ich umgekehrt allerdings den Eindruck, dass manche unserer verehrten politischen Gegner eine Partei bekämpfen, die es gar nicht gibt. Aber sei´s drum.
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Wir dürfen an einem Tag wie heute stolz erklären: Wir, CDU und CSU, haben Deutschland in entscheidenden Phasen unseren Stempel aufgedrückt. Mit unseren Bundesvorsitzenden Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger, Rainer Barzel, Helmut Kohl, Wolf-gang Schäuble. Sie alle haben sich um unsere CDU verdient gemacht - genauso wie Lothar de Maizière, der erste und zugleich letzte Vorsitzende der wieder freien CDU in der DDR.
In den vergangenen 60 Jahren waren die Herausforderungen nicht selten größer als heute. Aber auch heute sind sie groß. Und die Hinterlassenschaft, die wir vorfinden, wiegt schwer. Von uns heute hängt es ab, wie in weiteren 60 Jahren, also im Juni des Jahres 2065, über die CDU gesprochen wird - ob wir an einer entscheidenden Weggabelung eine gestaltende Kraft geblieben sind oder nicht, ob wir den Herausforderungen der Zeit gerecht geworden sind oder nicht, ob wir die Weichen für einen Politikwechsel gestellt haben oder nicht.
Deutschland braucht einen Politikwechsel:
• Einen Wechsel zu neuer Freiheit, die mehr Arbeit und Wachstum bringt, die auch der Idee der sozialen Gerechtigkeit wieder zu ihrem Recht verhilft.
• Einen Wechsel zu neuer Verantwortung, die das Bewusstsein erneuert, nur gemein-sam voran zu kommen. Die Summe aller Verbandsinteressen ist noch lange nicht Gemeinwohl.
• Einen Wechsel zu neuer Verlässlichkeit, ohne die es kein Vertrauen gibt und ohne die keine Veränderungen gelingen.
Meine Damen und Herren, ich sagte es zu Beginn: Unsere Motivation heißt Deutschland. Unsere Verpflichtung gilt dem Wohlergehen der Menschen. Sie ist das Herzstück unseres Auftrages. Für Einigkeit und Recht und Freiheit. Damals wie heute.
Der frühere amerikanische Präsident Bill Clinton hat nach dem Mauerfall hier in Berlin dem deutschen Volk zugerufen: „Alles ist möglich“. Meine Damen und Herren, ja, alles ist mög-lich. Vor allem ist für Deutschland viel mehr möglich, als es heute scheint.
„Wir werden nicht alles anders, aber vieles besser machen“, hat 1998 jemand gesagt. Was daraus geworden ist, wissen wir.
Ich sage heute: Wir werden es grundlegend anders machen, damit es grundlegend besser wird für Deutschland. Das haben wir mit unseren Gründern gemeinsam.
Vielen Dank.

1 Kommentar:

  1. Was will uns die Kanzlerin wohl damit sagen?
    Haben wir es bald mit einer Diktatur von Banken und Konzernen nicht nur im versteckten Sinn wie heute zu tun? Oder meint Sie die Abschaffung der Demokratie in Deutschland und der EU überhaupt.

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